Zu Adel Abdessemed und Silvia Ocougne essay cv
Fröhliche Apokalypse [Adel Abdessemed] [Pier Luigi Tazzi]: Von Anfang an war die Kunst von Adel Abdessemed Reaktion auf seine politische, soziale und institutionelle Umgebung. Seine Arbeiten manifestieren sich als Fotografien, Videos, Environments und Objekte, auch in Schriften, alles in Kombination und in direkter Interaktion mit dem jeweiligen Ausstellungsort. Dabei entsteht immer ein Ungleichgewicht, denn seine Arbeiten stellen nicht nur für die Institutionen und Ereignisse, in deren Rahmen sie zu sehen sind, sondern auch für öffentliche und private Sitten und Gebräuche, Einstellungen und Erwartungen eine Herausforderung dar.  »Ich finde meine Themen und Materialien in allem, was mit dem Verbotenen zu tun hat, mit Tabus, und mit den Formen, die davon ausgebildet werden. Man muss die Augen offen halten und sich gegen Gesetz und Moral auflehnen, denn beide wollen das Leben zum Stillstand bringen. Die Großzügigkeit meiner Materialien (Minze, Wein, Marihuana, Zitronen, Tanz usw.) gestattet mir, die Perspektive zu wechseln, vom Banalen wegzukommen und die Tür zu einer anderen Realität zu öffnen, jener der Freude und des Verlangens. Das ist intensiv erotisch«. Offenbar geht es ihm um eine fröhliche Apokalypse.
Brasilien – Berlin. Silvia Ocougnes Klangexpeditionen [Christa Brüstle]: Manche Komponisten und Musiker besitzen eine musikalische »Muttersprache«, die sie zur lebenslangen rumorvollen Quelle ihres Tuns entwickeln. Silvia Ocougnes musikalische Heimat ist unverkennbar die brasilianische Musik, charakteristische Rhythmen und Melodien sowie Gitarren als »ihre« Instrumente, aber auch die Lust daran, dieses »Gepäck« experimentell in völlig neue Kontexte zu stellen. Die musikalische Muttersprache ist wandelbar, kann sich an andere Idiome anpassen, ist offen für Experimente, für humorvolle Selbstkritik, für Collage und Dekomposition. Diese Tendenzen vertiefte die Musikerin und Komponistin in Boston, wo sie nach der Ausbildung in São Paulo »Third Stream Guitar« studierte. 1987 kam sie nach Berlin. Es begann ein Neuanfang in der geteilten Stadt, freies Experimentieren mit Gitarren und Saiteninstrumenten, sie spielte in Arnold Dreyblatts Orchestra of Excited Strings oder mit Chico Mello, der ebenfalls seine brasilianische musikalische Muttersprache nach Berlin transferiert hatte. Klangexperimente mit der Gitarre schlossen die ganze Bandbreite der Bearbeitung und Erweiterung der Instrumente ein: Gitarren werden umgestimmt, sie wandeln sich zu Perkussionsinstrumenten, werden mit dem Bogen gestrichen oder als »table guitar« gespielt, die Saiten lassen sich verquer aufspannen oder nach dem Vorbild Cages präparieren. Seit einigen Jahren arbeitet Silvia Ocougne auch mit Tänzern, Filmemachern oder Performancekünstlern zusammen. Dabei entstehen oft elektroakustische Kompositionen, die nicht nur Atmosphären schaffen, sondern in denen der Charme verfremdeter Windharfen oder melancholische Geräuschcollagen auch weiterhin Symbole dafür sind, konventionelle Schranken in Frage zu stellen.
Spirit 2005, Foto © Marc Domage